„Da ist jemand, der zuhört“

25/08/2025

Lebensfarben begleitet Kinder psychisch kranker Eltern durch Patenschaften

Foto: Lebensfarben

Frau Karsten, wie fühlt es sich an, zu wissen, dass es in Deutschland mindestens 3,8 Millionen Kinder gibt, die sich mehr um ihre Eltern kümmern müssen, als um sich selbst?

Sandra Karsten: Das ist eine sehr erschreckend hohe Zahl. Und wir müssen leider davon ausgehen, dass die Dunkelziffer noch deutlich größer ist. Das trifft mich sehr. Denn es bedeutet, dass Millionen Kinder ein Stück ihrer Kindheit verlieren. Sie übernehmen Verantwortung in ihrer Familie, die eigentlich noch nicht auf ihren Schultern lasten sollte.

Wir von Lebensfarben begegnen diesen stillen Held:innen, die viel zu früh erwachsen werden müssen. Es fühlt sich zutiefst ungerecht an. Es zeigt aber auch, wie wichtig unsere Arbeit ist und wie groß der gesellschaftliche Handlungsbedarf tatsächlich ist.

Wir brauchen deutlich mehr Unterstützungsangebote für Familien in Krisensituationen. Und genauso brauchen wir ein größeres Verständnis für psychische Belastungen. Denn noch immer ist dieses Thema in unserer Gesellschaft stark tabuisiert und mit Scham behaftet.

Welche Herausforderungen erleben Kinder, deren Eltern mit psychischen Erkrankungen oder Suchtproblemen zu kämpfen haben?

Fehlt eine feste Bezugsperson und sind die Kinder isoliert in ihrem Umfeld, kann das zu Vereinsamung führen. Oft haben sie kaum noch soziale Kontakte, weil sie Angst haben, über das zu sprechen, was zuhause passiert. Psychische Erkrankungen oder Suchtprobleme der Eltern sind häufig ein großes Familiengeheimnis, über das nicht gesprochen wird. Diese Stille wird von den Eltern oft unbewusst weitergegeben, und auch in der Schule oder im Kindergarten ist das Thema oft tabuisiert.

Deshalb sensibilisieren wir Fachkräfte in Schulen und Kindergärten, um dieses Tabu zu durchbrechen. Wenn Eltern merken, dass über das Thema offen gesprochen werden kann, öffnen sie sich leichter. Das entlastet die Kinder ungemein, weil sie spüren, dass sie nicht allein sind und darüber reden dürfen.

Ihr Verein bietet Kindern und Jugendlichen von Eltern mit psychischen Erkrankungen oder Suchtproblemen Hilfe an, unter anderem durch das Patenprojekt. Wie gestaltet sich der Alltag von Paten und jungen Menschen konkret?

Der oder die Patin holt das Kind pro Woche von zu Hause, der Schule oder dem Kindergarten ab und verbringt dann etwa zwei bis drei Stunden gemeinsam. Was in dieser Zeit geschieht, ist ganz individuell und richtet sich nach den Bedürfnissen und Wünschen des Kindes.

Viele Kinder möchten zu Beginn einfach zur Patin oder zum Paten nach Hause kommen, einfach zur Ruhe finden und die Seele baumeln lassen. Sie genießen es, in entspannter Atmosphäre gemeinsam zu backen, zu kochen oder einfach nur zu reden. Es ist keineswegs so, dass die Kinder ständig Action oder besondere Unternehmungen brauchen. Im Gegenteil: Viele freuen sich ganz bewusst auf diese ruhigen, geschützten Momente, in denen sie ganz sie selbst sein dürfen.

Diese Zeit bedeutet für die Kinder, Kind sein zu können – fernab von den Belastungen, die sie zu Hause möglicherweise erleben. Sie spüren, dass da jemand ist, der sich ehrlich für sie interessiert, ihnen zuhört und ganz für sie da ist. Verlässlichkeit und Aufmerksamkeit sind das, was eine Patenschaft so besonders wertvoll macht.

Erinnern Sie sich an eine Patenschaft, aus der eine besonders berührende Verbindung hervorgegangen ist?

Neulich hatte ich ein Gespräch mit einer Patin, das mich sehr bewegt hat. Sie begleitet ihr Patenkind inzwischen seit fünf Jahren – seit es vier Jahre alt ist. Die Beziehung ist sehr stabil und vertraut, das Kind fühlt sich der Familie der Patin inzwischen stark zugehörig.

Wenn eine Patenschaft über längere Zeit besteht, kann es vorkommen, dass das Kind auch mal bei der Patin übernachtet. In diesem Zusammenhang stellte das Kind eine Frage, die mir sehr naheging. Es fragte: „Holst du mich auch noch ab, wenn ich größer bin? Oder wenn ich verheiratet bin?“ Die Patin üerbelegte kurz und sagte: „Dann bin ich vielleicht schon ganz alt. Vielleicht bin ich dann sogar im Altenheim.“ Darauf antwortete das Kind selbstverständlich: „Das ist doch kein Problem. Dann hole ich dich eben ab.“

Diese Frage hören wir übrigens öfter: „Bist du noch für mich da, wenn ich groß bin?“ Sie zeigt, wie tief die Bindung sein kann, die sich in einer gut laufenden Patenschaft entwickelt. Manchmal entsteht daraus eine Freundschaft fürs Leben.

Wie haben sich die Kinder aus dem Patenprojekt im Laufe der Zeit verändert? Welche positiven Entwicklungen konnten Sie seit Beginn des Projekts beobachten?

Zu Beginn sind die Kinder oft sehr zurückhaltend und verunsichert. Durch die verlässliche Beziehung zu ihrem/ihren Pat:in blühen sie mit der Zeit auf. Das spüren wir ganz deutlich in den Evaluationsgesprächen, und auch Lehrkräfte oder Erzieher:innen bestätigen das.

Viele Kinder kommen mit tiefem Misstrauen gegenüber Erwachsenen zu uns, oft geprägt durch die Familiengeheimnisse. Die Eltern entscheiden sich freiwillig für unsere Begleitung, und wenn sie merken, dass hier ein geschützter Rahmen besteht, in dem sie sich öffnen können, dann trauen sich auch die Kinder, Vertrauen zu fassen. Sie spüren, dass da jemand ganz freiwillig und ehrlich für sie da ist – und das ist unglaublich wichtig.

Diese Erfahrung bewirkt eine große Veränderung: Die Kinder gewinnen mehr Vertrauen, öffnen sich, zeigen Neugier auf Freizeitaktivitäten, können endlich spielen und einfach Kind sein. Durch diese Stabilität wächst ihre Selbstwirksamkeit, ihr Selbstwertgefühl wird gestärkt, sie lernen besser mit Stress umzugehen und trauen sich mehr zu.

Jede kleine Veränderung ist dabei ein großer Schritt. Patenschaften können für Kinder ein verlässlicher Anker sein. Deshalb ist es so wichtig, dass diese Patenschaften dauerhaft bestehen bleiben und regelmäßig finanziell abgesichert werden. Die Gesellschaft muss erkennen, wie groß der Bedarf an solchen verlässlichen Begleitungen ist.

Mit einer langen Warteliste zeigen Sie, wie groß der Bedarf nach solchen unterstützenden Angeboten ist. Wie gehen Sie mit dieser hohen Nachfrage um?

Die Warteliste ist tatsächlich sehr lang. Derzeit warten über 80 Kinder auf eine Patenschaft. Um dem entgegenzuwirken, bilden wir regelmäßig neue Ehrenamtliche aus, sodass die Warteliste mit der Zeit kleiner wird. Dabei ist es wichtig, genau zu prüfen, welche:r Ehrenamtliche zu welchem Kind passt, denn das ist entscheidend für den Erfolg der Patenschaft.

Für die Kinder, die auf der Warteliste stehen, bieten wir häufig bereits andere Angebote an, wie etwa die Kinder- und Jugendgruppen. So versuchen wir, der ganzen Familie bestmöglich Unterstützung zu bieten.

Ein wichtiger Punkt ist, dass die Familien schon bei uns angedockt sind und eine Anlaufstelle haben. Allein das Wissen, jemanden zum Reden und eine Anlaufstelle zu haben, kann bereits eine spürbare Entlastung bringen.

Das vollständige Interview mit Sandra Karsten lesen Sie an dieser Stelle ab November 2025, wenn die neue Ausgabe der „Aktion Aktuell“ erscheint.

Weitere Informationen zu Lebensfarben

Lebensfarben ist auf Spenden und Stiftungsgelder angewiesen, da eine dauerhafte staatliche Förderung bislang fehlt. Nur dank dieser Unterstützung kann der Verein aus dem Oberbergischen Kreis seine vielfältigen Angebote zur Begleitung und Stärkung von Kindern und Kindern psychisch und/oder suchterkrankter Eltern aufrechterhalten und weiterentwickeln. Ob in individuellen Beratungen, Gruppenangeboten oder durch ehrenamtliche Patenschaften – Lebensfarben setzt sich mit großem Engagement dafür ein, jungen Menschen in schwierigen Lebenslagen Stabilität, Orientierung und neue Perspektiven zu geben. Die Paten werden dabei durch regelmäßige Reflektionsgespräche, Supervisionen und bei Bedarf auch durch professionelle Unterstützung begleitet.

Zur Person: Sandra Karsten ist Geschäftsführerin von Lebensfarben. Foto: Lebensfarben

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