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Reform SGB VIII: Über Gelingensfaktoren und Herausforderungen der „Großen Lösung“

12/08/2024

Ein Interview mit Angela Smessaert, stellv. Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Chancengerechtigkeit und gesellschaftlichen Teilhabe aller Kinder ist aktuell die auf Bundesebene geplante „Inklusive Lösung“, die wir in diesem Jahr zu unserem Blickpunktthema gemacht haben. Hierbei handelt es sich um die gesetzlich geregelte Gestaltung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe, auch „Große Lösung“ genannt.

Die bisher getrennten beiden Rechtsbereiche der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe für Minderjährige sollen in diesem Rahmen zusammengeführt werden.

Was es für die Umsetzung braucht und welche Herausforderungen sich dabei ergeben, haben wir Angela Smessaert, stellv. Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, gefragt.

Bildquelle: Medienzunft Berlin

Was bedeutet für Sie Inklusion?

Inklusion ist ausgerichtet auf eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gleichermaßen akzeptiert und Vielfalt geschätzt wird. Alle Menschen sollen an dieser Gesellschaft gleichberechtigt und selbstbestimmt teilhaben können – unabhängig von Geschlecht oder Gender, Alter, Herkunft oder Migrationshintergrund. Unabhängig von Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung, Bildung oder sozialer Lebenslage. Und unabhängig von eventuellen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen sowie sonstigen individuellen Besonderheiten oder sozialen Zuschreibungen.

Inklusion bedeutet für mich daher im Wesentlichen aktives Wirken gegen Nichtteilhabe und Exklusionsprozesse. Dabei kann der Ausschluss von Personen gegen ihren Willen zahlreiche Facetten des gesellschaftlichen Lebens, vielfältige Formen der Interaktion und unterschiedliche Aspekte des Zugangs zu gesellschaftlichen Leistungen und Angeboten betreffen. Inklusion erkennt an, dass Einschränkungen bei der Teilhabe nicht an – bestehenden oder zugeschriebenen – Eigenschaften einer Person selbst liegen, sondern auch daran, wie die Umwelt dieser Person gestaltet ist.

Die Verankerung des bio-psycho-sozialen Modells im internationalen und deutschen Recht für Menschen mit Behinderung ist eine Anerkennung dieser umweltbezogenen Wechselwirkung. Denn es berücksichtigt sowohl persönliche Merkmale als auch Lebensbedingungen. Dieser Ansatz lässt sich auf viele verschiedene Bereiche der Vielfalt übertragen.

Worin sehen Sie die größte Herausforderung bei der Umsetzung der „Großen Lösung“?

Die Umgestaltung hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe ist ein Systemwandel, der wiederum auf einen noch größeren Systemwandel und den immer weiter fortzusetzenden Einsatz für Inklusion in unserer Gesellschaft zielt. Eine werteorientierte Gesellschaft wird immer weiter gefordert sein, Exklusionsprozessen durch inklusives Wirken etwas entgegenzusetzen.

Für die größten Herausforderungen halte ich dabei, nicht den Mut zur Veränderung zu verlieren – und immer wieder am Vertrauen in die Kompetenzen „der anderen“ sowie am Vertrauen in deren gleichermaßen an den Interessen der Menschen ausgerichtete intrinsische Veränderungsmotivation festzuhalten. Irritation, Skepsis und Abwehr entstehen leider so leicht. Nötig sind im Kontrast dazu eine beharrliche Neugier gegenüber den Beweggründen von Zurückhaltung, eine gemeinsame Suche nach Lösungen und eine auch an sich selbst zu richtende Offenheit für Wandel.

Was bedarf es darüber hinaus am meisten für die Verwirklichung?

Wird in Anbetracht von Fachkräftemangel und Haushaltskrisen gestöhnt, diese Reform führe in die Überforderung, halte ich das für zu kurz gesprungen: Ja, es braucht eine Unterstützung der Umstrukturierung und des fachlichen Zusammenwachsens der zwei Systeme „Behindertenhilfe“ sowie „Kinder- und Jugendhilfe“. Ja, es braucht neben der gesetzlichen Anordnung der Reform auch funktionierende Vorschläge, teils auch konkrete Vorgaben zur Ausgestaltung und eine fachliche Begleitung und Sicherung der Qualität, um die bereits aktuell so hart gerungen werden muss.

Aber gerade auch in Zeiten knapper Ressourcen ist so eine Reform auch die Chance, so (um)zusteuern, dass Entlastungspotentiale genutzt werden und der Einsatz zielgerichtet und bedarfsorientiert bei den Menschen ankommt. Ich hoffe sehr auf ein entsprechend gestaltetes Begleitprogramm für die SGB VIII-Reform, das in der Fläche ankommt. Dabei sehe ich den Bund übrigens nicht in Alleinverantwortung, sondern glaube, dass Länder, Kommunen, leistungserbringende Träger, die Verbände und Aus-/Weiterbildungsinstitutionen jeweils beitragen müssen.

Und nicht zuletzt tun wir alle gut daran, dabei den jungen Menschen und Familien zuzuhören und diese an der Umgestaltung aktiv zu beteiligen.

Welches Angebot oder Projekt in der Kinder- und Jugendhilfe ist Ihnen als Beispiel gelungener Inklusion besonders in Erinnerung geblieben und was zeichnet es aus?

Mich beeindrucken immer wieder ganz unterschiedliche Geschichten und der teils sehr pragmatische Anpack in der Praxis, durch den – allen Hindernissen zum Trotz – sozialer Kontakt, Teilhabe, Zugehörigkeit, Partizipation und Freude möglich gemacht wird.

Für mich, die auf einer Meta-Ebene agiert und an die Verantwortung von Leitung glaubt, ist es ein großes Geschenk, wenn z. B. Christian Berends (Jugendamt der Stadt Delmenhorst) und Tina Cappelmann (Lebenshilfe Delmenhorst und Landkreis Oldenburg) berichten. Ich empfehle daher einen Blick auf „Teilhabe schaffen – Was wir schon heute für Inklusion tun können und warum wir trotzdem eine Reform des Kinder- und Jugendhilferechts brauchen“ (FORUM Jugendhilfe 1/2024, S. 49 – 54).

Mehr Informationen unter www.agj.de/

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